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Donnerstag, 28. Juli 2011

"Mein Kampf" für das Internetzeitalter

Ein Hirn als Filter des Wahnsinns: Warum man sich das bizarre Manifest des Massenmörders Anders Behring Breivik anschauen sollte.

Anders Behring Breivik ist kein unverstandenes Genie. Man darf sich nicht blenden lassen von der Aura des intelligenten Außenseiters, von der Systematik seines Vorgehens – und auch nicht von den 1518 Seiten jenes Manifests, das der Massenmörder vor seiner Tat an seine Facebook-Freunde verschickte, auch wenn der Text vor Zitaten von Karl Popper, Georg Lukács oder Edmund Burke nur so wimmelt.

 In jenem Interview, das Breivik gegen Ende des Konvoluts mit sich selbst führt, gibt er nicht nur Hobbes, Clausewitz und Kafka als seine Lieblingsautoren an. Er benennt auch, wie ein Fünfzehnjähriger in einem Poesiealbum, sein Lieblingsbier (Budweiser), seine Lieblingsmarke (Lacoste) und seinen liebsten Duft (Chanel Platinum Egoiste). Das klingt nicht nach dem Fragebogen, den der Schriftsteller Marcel Proust in seinem Leben gleich zweimal ausfüllte.


Der Attentäter ist kein großer Denker

Nein, Breivik ist kein großer Denker. Aber er ist eben doch ein Denker, und allein der Umstand, dass er seiner Tat eine wildwuchernde und viel zu lange Abhandlung voranschickte, stellt eine besonders unheimliche Dimension dieses Terroranschlags dar.

Breivik genügten die in Heimwerkerarbeit verfertigten Bomben nicht, er lieferte der Öffentlichkeit auch das selbstgebastelte Weltbild mit – eine krude Mischung aus zusammenkopierter Theorie, kulturkritischen Aphorismen, romanhaften Tagebuchpassagen und technischen Anleitungen und zugleich der Versuch, die Weltsicht eines Außenseiters zur allumfassenden Großtheorie hochzurechnen.

Man kann ein Vorbild dieses Verfahrens im Manifest des als „Unabomber“ bekannten Terroristen Theodore Kaczynski finden, das von Breivik, wie genaue Leser im Internet schnell herausgefunden haben, tatsächlich seitenweise plagiiert wird.

Breivik bewunderte Hitler nicht

Aber den eigentlichen Urtext im Genre des terroristischen Bildungsromans stellt „Mein Kampf“ dar, jenes zweibändige Buch, das Adolf Hitler – für den Breivik nach Auskunft seiner Schriften keinerlei Bewunderung empfand – in der Landsberger Festungshaft verfasste.

Es ist eine seltsame Ironie der Geschichte, dass auf den norwegischen Terroristen nun eine lange Zeit der Gefängnishaft wartet, in der er sich als selbsternannter Vordenker einer konservativen Revolution in Europa sicher noch weitere Gedanken machen wird.
Dabei gibt es einen offensichtlichen Unterschied zwischen jenem Werk, in dem Hitler seine antisemitischen Überzeugungen aus seinen „Wiener Lehr- und Leidensjahren“ ableitet, und Breiviks zusammengeklaubtem Manifest mit dem seltsam filmhaften Titel „2083 – A European Declaration of Independence“.


Ein Manifest mit Tipps und Tricks

Hitler bemüht zumindest oberflächlich das alte Erzählmuster des Künstlerromans, bevor er sich in strategischen Kapiteln über Propaganda und Organisation oder die Gewerkschaftsfrage ergeht.

Breivik dagegen versucht erst gar keine Narration anzulegen. Sein Manifest beginnt allen Ernstes mit Tipps und Tricks, auf welchen Seiten man sich kostenlos das Microsoft-Office-Paket herunterladen kann, und Ausführungen darüber, dass PDFs größere Datenmengen als Worddokumente verbrauchten und daher zum Verschicken des Textes nicht die beste Wahl seien. Das ist propagandistische Prosa, wie sie ein Netzwerkadministrator verfasst haben könnte.

Auch in den inhaltlichen Kapiteln funktioniert die Abhandlung eher wie eine Aneinanderreihung von Wikipedia-Artikeln. Man kann für fast jeden Satz aus dieser klebrigen Textmasse bei Google eine mehr oder weniger obskure Quelle finden – ob es nun um die Frankfurter Schule und den Multikulturalismus geht, um Derrida und die Dekonstruktion, um Platons Staat oder den russisch-türkischen Krieg.


Halbverstandenes und Angelesenes

Selbst an der Hochschule für digitale Autodidakten hätte man dafür keinen Doktortitel bekommen. Und die Zitate von Konfuzius und Mark Twain wirken meistens so, als seien sie keine Früchte genauer Lektüre, sondern Funde aus Zitatabladeplätzen im Internet.

Aber auch Hitlers „Mein Kampf“ ist, wenn man es genau betrachtet, eine Schutthalde für Halbverstandenes und Angelesenes – und allein das Sachverzeichnis liest sich mit Einträgen wie „Beamtentum des alten Reiches unvergleichlich“, „Dadaismus“, „Karthago: Selbstverschuldeter Untergang“, „Tuberkulose“ und „Zeitungsleser: drei Gruppen“ wie eine surrealistische Enzyklopädie, und es fällt nicht leicht, sich vorzustellen, dass dieses über weite Strecken absurde Werk in den Jahren des Dritten Reichs jedem frischvermählten Paar zur Hochzeit geschenkt wurde.

Muss man Breiviks seltsames Machwerk nun also ernst nehmen, so wie man in den Zwanzigerjahren gut beraten war, Adolf Hitlers frühes Propagandawerk ernst zu nehmen? Ganz bestimmt nicht.

Aber es lohnt sich doch, das Manifest zu betrachten, um zu sehen, wie das paranoide Systemdenken unter den Bedingungen des Internetzeitalters aussieht. Dass Lektüre eine Quelle des Wahnsinns sein kann, ist eine uralte Einsicht. Das scheinbar futuristische Manifest des norwegischen Massenmörders Anders Behring Breivik zeigt uns das Gehirn eines mittelbegabten Menschen als Filter für den Wahnsinn unserer Tage.

Quelle: welt.de

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